Marco Niemann

Essen / RuhrgeBeat

„Little Drummer Boy“ und liebevollster Vater

Little Drummer mit acht. Mit 16 am Schlagzeug der Ostband Karat. Heute mit 40 ist er Ruhrgebeat-Taktgeber.Und Vater von Ella (0)

Von Stefan Aschauer-Hundt

Wie schön, dass es die Musik gibt. Sie transportiert Stimmungen und Schwingungen, die mit Worten nicht zu greifen sind. Sie stimuliert auch den Chronisten, wenn er über Marco Niemann, den Schlagzeuger des Rockorchesters Ruhrgebeat, berichten will. Tja . . . soll ich mich an „Little Drummer Boy“ in der Einspielung von Bing Crosby und David Bowie von 1977 halten oder lieber an „Rock ’n Roll I gave you all the best Years of my Life“ von Kevin Johnson, das er 1973 aufnahm? Ich überlege mir das noch . . .

ESSEN, NÄHE GRUGAHALLE Ein unauffälliges Haus im Essener Süden. Bimbam sagts, und Marco Niemann öffnet uns die Tür, signalisiert ein „bitte leise, Ella schläft.“ Was dem Chronisten auf liebevolle Weise klarmacht, um wen sich in den nächsten zwei Stunden alles drehen wird. Weniger um Marco, den Drummer des Rockorchesters, als vielmehr um Ella. Gerade zwei Monate ist sie auf der Welt, als wir Marco besuchen und sie wird die heimliche Hauptperson. Denn Mama Sabine ist unterwegs, als das Interview startet.

Marcos Familie

Ella geht von Arm zu Arm
Ella ist den beiden Männern ihrem Vater und dem Reporter ausgeliefert. Und wach geworden genießt sie es, von Arm zu Arm zu gehen, mal von diesem, mal von jenem getuckelt und beschmust zu werden. Ella wickelt die zwei Kerle um den kleinen Finger. Ein Interview so absolut privat wie dieses führte ich noch nie! Jedenfalls gibt es in den Stunden des Interviews eigentlich drei Dramaturgien: Wir sprechen über Marco Niemann aus Essen, seine Stellung im Rockorchester erstens. Es geht darum, wie Marco Niemann aus Wolsdorf bei Helmstedt im einstigen Zonenrandgebiet lange vor dem Fall der Grenze in die Musik einstieg, um seine Ausbildung im Betrieb des Vaters zweitens. Und wir erleben den zärtlichen Vater der kleinen Ella, eines Bündels Leben, eines Menschlein, das in den großen Händen des Schlagzeugers ruht und das Fläschchen bekommt drittens.

Wie man diese drei Bühnen zu einem Lebensschauspiel verklammern kann? Ella kann es. Sie ist mit ihrem acht Wochen mittendrin und ja, sie lauscht. Lauscht, wie die Stimme ihres Papas vom Hier und Jetzt berichtet. Nämlich davon, dass Marco Niemann musikalisch auf verschiedenen Hochzeiten tanzt. Da ist zum Beispiel die Anstellung an der Musikschule Haan e.V., angesiedelt vor den Toren Düsseldorfs. 1 000 Schüler nehmen hier Unterricht; Marco Niemann unterrichtet Schlagzeug und Percussion.

Das lastet ihn aber nicht aus: In den Klassen 1 bis 4 der „offenen Ganztagsschule“ neudeutsch Ogata gestaltet Niemann die rhythmische Grunderziehung und führt unter anderem vor, wie man auf Alltagsgegenständen trommeln kann. Motto: Alles und jedes ist Musik! Denn: „Viele Kinder wissen gar nicht, dass es Musik und Instrumente gibt“. Marco Niemann stellt es immer wieder in der Grundschule fest und animiert die Kinder, zum Tag der offenen Tür in die Musikschule zu kommen. Staunende Kinderaugen und große Ohren sind ihm sicher! Seine pädagogische Grundausbildung aus dem Lehramtsstudium kommt Marco dann zugute, wenn er an der „Ogata“ und an der privaten Musikschule unterrichtet. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich Niemann am Düsseldorfer Drummer-Institut perfektionierte und diverse Musikschul-Fortbildungen absolvierte, auch, um später die Kinder im Unterricht und die Erwachsenen im Konzert zu beglücken.

Aber das kam erst viel später in Marco Niemanns Leben, seinem zweiten Leben gewissermaßen. Geboren in Helmstedt, aufgewachsen im Zonenrandgebiet, dort, „wo es immer nur in die eine Richtung ging, denn die andere Seite war zu.“ So war das, damals im geteilten Deutschland. Als komisch empfunden hat das Marco erstmals, als Besuch „von drüben“ kam. Jahre vor der Grenzöffnung war nämlich die Ostband Karat auf Westtournee und trat in Helmstedt auf. Marco Niemanns Schülerband „Selection“ durfte als Vorgruppe ran und Marco, der als 16-Jähriger das Schlagzeug befeuerte, durfte auf der Bühne die bereits aufgebaute Karat-„Schießbude“ bedienen. „Mann, war ich stolz“ grinst Marco noch heute über beide Ohren.

Mrco in Duesseldorf

Marco im Focus auf der Grossleinwand bei einer Veranstaltung im Duesseldorfer Maritim Hotel.
Foto © Kai Dannenberg

Er war der Kleine im Spielmannszug
Schließlich hatte Marco bis dahin einen weiten Weg zurückgelegt. Gestartet war er im Bergmannsverein und Spielmannszug Wolsdorf bei Helmstedt. „Mit acht Jahren habe ich die kleine Wirbeltrommel gespielt“, erinnert sich Marco an seinen Start als „Little Drummer Boy“ und an die schwarzen Bergmannsuniformen, die der Spielmannszug trägt _ und die er gerne nochmal anziehen und mit dem Spielmannszug losmarschieren würde. Nun, als Marco damals der kleine Trommler war, standen Bing Crosby und David Bowie mit dem Weihnachtslied vom „little drummer“ ganz oben in den Verkaufslisten. Süße Erinnerungen _ und Marco erinnert sich weiter, als wäre es gestern, an die Zeit, als er 13 war. „Der Nachbar verkaufte ein Schlagzeug. Das war wirklich der Weckruf für mich.“
Aus dem Spielmannszug wurde die Schülerband und Marco nahm Kurs auf die professionelle Musik nein, genau das nicht. Niemann sollte Zentralheizungs- und Lüftungsbauer werden wie sein Vater. Denn der wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sein Sohn in seine Fußstapfen treten, den gleichen Beruf erlernen sollte. Und danach, so Vaters Traum, sollten sich die beiden Männer selbständig machen. Vom Installationsbetrieb Niemann, man hätte ihn landläufig wohl mit „Gas Wasser Scheiße“ übersetzt, blieb für Marco aber nur das „Scheiße“ übrig. „Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich die Lehre zu Ende bringe und keinen weiteren Tag in diesem Beruf arbeiten wollte.“ Funkstille zwischen den beiden Männern war die Konsequenz. Marco ging den schweren Weg.

Eine Jugend im Zonenrandgebiet
Absolvierte seinen 18-monatigen Zivildienst. Baute sein Abi auf dem zweiten Bildungsweg, studierte auf Lehramt. Und wollte doch nur eins: Musik machen. Das Zonenrandgebiet, in dem er aufgewachsen war, gab es über Nacht nicht mehr. Marco erlebte die Wiedervereinigung intensiver als viele andere Deutsche. Vor allem war er Zeuge der musikalischen Wiedervereinigung: „Die ging wesentlich einfacher und schneller als die politische Wiedervereinigung.“ Er war dabei und machte Musik.

Bis er feststellte, dass Helmstedt und Hannover nicht sein Leben bestimmen würden. Mit 28, als Spätberufener, nahm Marco sein Herz in beide Hände jetzt wurde er Profimusiker. Im Jahr 2000 war das. Marco zog nach Düsseldorf, schrieb sich am Drummer-Institut ein. „Geld hatte ich keins. Morgens habe ich Post ausgetragen, tagsüber gelernt, abends im Drummer-Institut geputzt.“ Da ist er real, dieser Kevin Johnson-Song: „Rock ’n Roll, I gave you all the best Years of my Life.“ Und Marco gab alles.

Marco in Gelsenkirchen

Das entscheidende Quäntchen Glück
Können, Wollen, das entscheidende Quäntchen Glück und ein unerwarteter Zufall, ein Wink des Himmels vereinten sich in dem Moment, als er am schwarzen Brett des Instituts einen angepinnten Zettel entdeckte: Für ein Musical wurde für wenig Geld ein umso fähigerer Percussionist gesucht. Niemann bewarb sich und lernte „Kiki“ und „Saki“ kennen. Die holten Marco erst in ihre Musical-Produktion nach Wetter und dann ins Rockorchester. Spätestens von da an war Marco Niemann „Ruhrgebeater“.
Wer rechnen möchte, stellt es fest: Marco gehört zu den ROR-Rockern der Gründerzeit, ist mithin eine feste Größe im Ensemble und hat es nie bereut, an Bord zu sein. „Als Orchesterdrummer ist es ein ganz anderes Spielen als in einer Combo.“ Die Bläser von hinten zu spüren, die Streicher von der Seite zu fühlen, die Sänger von der Seite zu erleben all das sei einmalig. „Ich mache das im Rockorchester total gerne; da gibt es für mich keine andere Band!“

Marco_solo
Bei dem Titel Hold me now legt Marco ein fulminantes Solo hin . Foto: © Kai Dannenberg

Erst schleppen, dann trommeln
Dabei gehört Marco zu den Musikern im Rockorchester, die beim Konzert die längsten „Dienstzeiten“ haben und am meisten buckeln müssen sein Instrument ist vom Volumen her das größte und von der Stückzahl her das umfangreichste. „Vor dem Trommeln kommt das Schleppen“, grinst Marco, schiebt schnell nach: „Alter Schlagzeugerwitz“. Und doch stimmt es: Niemann verlädt sein Instrument zuhause gründlich in den Kombi, platzsparend und durchdacht, transportiert es zum Gig, braucht eine halbe Stunde für den Aufbau und ist um 16 Uhr mit der Kernband spielbereit. Die weiteren Register des Orchesters müssen erst später ‚ran, die Sänger sowieso. Marco hat also den „langen Dienst“. Das führt zu langen „Stand by“-Pausen, zu Zeit für Small Talk. „Man muss aber auch Zeit für persönliche Muße, zum Rückzug finden. Ich schlummere dann mal oder gehe in mich.“ Schließlich vergehen alles in allem 12 Stunden, bis Marco mit seinem Equipment wieder daheim ist.

 

 

Marco in Action
Marco ist der wichtigste Mann im Orchester denn er gibt das Tempo an . Foto: © Kai Dannenberg

 

Ist das körperlich anstrengend, gar schweißtreibender Kraftsport? Der Schlagzeuger lächelt. „Ich spiele ein körperliches Instrument. Sport ist das nicht, sondern eine Frage der Koordination.“ Die vier Gliedmaßen müssen einen jeweils unterschiedlichen Beat spielen. „Das geht man locker und relaxed an, nicht mit Kraft.“ Nach Probe, Soundcheck und Konzert sei er mental verausgabt, nicht aber körperlich.
Ella mit ihren zwei Monaten meldet sich lautstark zu Wort. Nachdem sie eine Zeitlang von Arm zu Arm gegangen ist, hat sie Hunger und gibt das unmissverständlich zu verstehen. Marco Niemann wärmt das Fläschchen, prüft die Temperatur, platziert Ella auf dem Schoß und lässt sie nuckeln. Wohlig trinkt das Würmchen und schläft dann umso seliger ein. Wer in diesem Moment zufriedener ist . . . man weiß es wirklich nicht. Marco Niemann ist mit sich und der Welt im Reinen.

Ein Beruf, der Berufung ist
Er hat seinen Beruf gefunden, der seine Berufung ist. Seine Eltern, die Angst vor dem Absturz des Sohnes, vor der „Karriere“ im Sinne von „Rock ’n Roll, I gave you all the best Years of my Life“ hatten, sind inzwischen stolz auf ihren Marco, besuchen sogar ROR-Konzerte. Und natürlich sind sie stolz auf Enkelin Ella, den im Schoß schlummernden Zwerg, der uns beide Männer im Interview auf so innige Weise für sich eingenommen hatte.
Ob Ella dereinst Musik machen wird? Oh, ganz bestimmt! Mit Marimbaphon und Vibraphon macht sich Marco Niemann daran, wohlige Klänge an Ellas Ohr zu bringen. Außerdem _und das ist nicht zu verachten bekommt sie den Schlagzeugbeat im Haus im Essener Süden quasi mit dem Fläschchen verabreicht. Spätestens hier schließt sich der Kreis, wenn der „Little Drummer Boy“ von einst heute als liebevollster Vater seinem Christkind ein getrommeltes Wiegenlied zum Geschenk macht . . .

Marco mit Family

Stefan Aschauer-Hundt